Tanz der Etüden

Angela Metzger mit intelligent-interessantem Programm beim Orgelsommer.

Tübingen. Nach vierzig abgesagten Konzerten hat Angela Metzger aufgehört zu zählen, doch nun ist sie dabei, möglichst alles  nachzuholen, von Zürich bis Berlin und Toulouse. Dabei war sie am Samstag beim vorletzten Konzert des 26. Orgelsommers zum ersten Mal an der Weigle/Rensch-Orgel der Stiftskirche zu hören. Walter Blum, Vorsitzender des Fördervereins Stiftskirchenorgel, begrüßte sie unter Beifall der 150 Hörer, lud zum Kinderkonzert mit Kästners „Konferenz der Tiere“ am Mittwoch und zum Orgelspaziergang am Freitag ein.

Metzger stellte ihr intelligent-interessant zusammengestelltes Programm vor: Hommage an den Tanz der eine Schwerpunkt, der facettenreiche Begriff „Studie – Etüde – Übungsstück“ der andere. Im Zentrum standen zwei sechsteilige Werkzyklen, aus denen Metzger je drei Teile ausgewählt hatte. Robert Schumanns Absicht war, sich auf Orgel und Pedalflügel zu üben, mit Hilfe einer orgelähnlichen Pedalreihe hatte er seinen Flügel erweitert und für sich und seine geliebte Clara „Sechs Stücke in kanonischer Form“ komponiert. Die zwei Melodiestimmen verschmelzen dabei oft zu einem gemeinsamen „Lied ohne Worte“. Metzger betonte den kammermusikalisch fließenden Gestus der Werke. Die zu diesem Zeitpunkt drei der später acht Kinder der Schumanns schliefen lieber ein, wenn die Eltern sich gemeinsam oder abwechselnd an dem erweiterten Instrument ausprobierten, vielleicht sogar gemeinsam komponierten.

Hochromantik als Verschmelzen von Historischem und Experimentellem, dazwischen als Ergänzung und Kontrast eine andere Spielart der programmatischen Idee: die vor 40 Jahren entstandenen „Six études pour orgue“ des hochproduktiven Kanadiers Bruce Mather, Schüler von Milhaud und Messiaen. In „Espaces“ weiche Wechsel, meditativ schwillt der Tremulantklang zu unendlichen Weiten, löst sich in einem Ton ins Nichts auf. Huschende Figuren, schimmernde Schatten in „Visionfugitive“, die sich in metallischen Mixturklängen manifestiert, sich im Universum verflüchtigt. Struktur des Stoffes in „Textures“, hier webt Metzger das zuweilen widerspenstige musikalische Material mit festen Fäden immer dichter, bis zum zehnstimmigen Schlussakkord, beinahe ein Cluster.

Eine Etüde über großartig aufgetürmte Schlussbildungen und über den Beginn der Mozartschen Nachtmusik könnte man das Finale op. 21 des Jubilars César Franck nennen. Metzger spielte mit Legato-Artikulation die Ähnlichkeit zum klassischen Vorbild herunter, und spätestens, als die Quarte übermäßig wurde und ein romantischer Choral sich ausbreitete, war der französische Orgelmeister ganz bei sich angekommen.

Auch ein Übungsstück, aber noch näher am Tanz: die Toccata F-Dur BWV 540, im beschwingten Dreiertakt nah an den  Brandenburgischen Konzerten. Hier ließ Metzger die Füße bei den ausgedehnten Soli über die Pedale tanzen, hatte dabei noch genügend Ernst für die Verwendung im sakralen Umfeld. In der Kirche schunkelt man nicht! Auch wenn minimale Ansätze im Publikum erkennbar waren. Fuge kann Bach natürlich ebenso: hier eine mit zwei Themen, Lamentobass-Thema und flötenden Zwischenspielen.

Ganz zum Tanz wurde das Konzert mit der Sicilienne aus Duruflés Suite op. 5, französisch klang plötzlich die Orgel, mit opulenter Oboenmelodie und feiner Flötenmixtur als Echo. Der Sweelincksche „Ballo del Granduca“ aus der Medici-Spätrenaissance, eine graziöse Schreittanz-Passacaglia, wies mit der Schreibweise „Baleth“ auf eine Figur aus der SF-Serie „The Orville“. Die ist „eine Bewohnerin eines Planeten, auf dem die Zeit schneller vergeht, als im Rest der Galaxie“. So war’s auch hier, und Metzger bedankte sich für den langen Applaus mit der Berceuse von Louis Vierne.

Alfred Gloger

 

Schwäbisches Tagblatt, 29.08.2022